Webinhalte in Webvideos – Popcorn.js für Journalisten

Inspiriert von dem „Newscontest -Unlocking Video“ der Mozilla Foundation ist das Multimedia-Feature „DDR-Flüsterwitze – Protest hinter vorgehaltener Hand“ von Annika Bunse und mir, Julius Tröger, für die Berliner Morgenpost entstanden.

Multimedia-Feature - DDR-Flüsterwitze

Bei der Recherche merkten wir schnell, dass es so viele interessante Aspekte, Zeitzeugen und Wissenschaftler zu dem Thema gibt. Eigentlich war bis zum Schluss nicht klar, wie wir die Fülle an Informationen am besten aufbereiten. Wir haben uns dann dafür entschieden, zu experimentieren und ausschließlich neue multimediale Darstellungsformen einzusetzen.

Die redaktionellen Experimente mit Online-Tools und Web-Techniken wie jQuery und Popcorn.js – abseits von Flash und Redaktions-CMS – stellten sich als große Herausforderung heraus, da es aus keinem dieser Bereiche Erfahrungswerte von Kollegen gab, im Netz wenig zu konkreten Fragestellungen zu finden war. Eine fertige Vorlage für die Inhalte lieferte lediglich das Timeline-Tool „Tiki Toki“. Alle anderen Ansätze wurden mithilfe der APIs von Soundcloud, Youtube und Google Fusion Tables individuell erstellt.

Zentrales Element bei dem Multimedia-Feature „DDR-Flüsterwitze – Protest hinter vorgehaltener Hand“ ist das Video auf der ersten Seite, in dem Zeitzeugen und Flüsterwitz-Forscher erzählen.
Es wurde erst ganz gewöhnlich mit einer Canon EOS 5D Mark II und einer 50mm/f1.4-Festbrennweite von Canon gedreht, mit Final Cut Pro 7 geschnitten und auf Youtube hochgeladen.
Dann haben wir darüber hinaus aber eine neue Technik eingesetzt, die es ermöglicht, zusätzliche Informationen in oder neben Webvideos – außerhalb des gerenderten/codierten Bereichs – darzustellen.

Dabei handelt es sich um das HTML-5-Multimediaframework Popcorn.js. Die Javascript-Bibliothek bietet die Möglichkeit, Webinhalte vom reinen Text über Links bis hin zu Karten oder Twitter-Feeds zeitgesteuert um das Video herum darzustellen. Diese Inhalte können dann nach Bedarf vom Nutzer betrachtet und sogar beeinflusst werden, um sich etwa durch die Zusatzinformationen tiefer mit dem Thema im Video befassen zu können.

Popcorn.js löst etwa das Problem, dass Texte, die bisher in Videos „eingebrannt“ waren, nun zusätzlich anderweitig verwendet werden können. So können etwa Links im Video dargestellt und vom Nutzer kopiert oder Text nun auch von Google indiziert werden. Darum haben wir Bauchbinden und Untertitel „befreit“. Bauchbinden sind zum Beispiel mit Links versehen und anklickbar.

Des Weiteren wollten wir möglichst große Teile unseres Recherchematerials und weiterführende Links darstellen (in dem Flüsterwitz-Projekt nicht ganz einfach, da die meisten Quellen lediglich offline verfügbar waren), die zu den passenden Zeitpunkten im Video erscheinen.
Recherchematerial und Informationen, die es nicht in das journalistische Endprodukt geschafft haben, verschwinden meist in irgendeiner (digitalen) Schublade. Dabei sind diese PDFs, Links oder Artikel anderer Medien für den User ggf. auch interessant und können sogar einen Mehrwert schaffen.

Popcorn sollte aber auch kritisch betrachtet werden: Wenn sich neben dem Hauptinhalt noch andere Dinge abspielen, besteht schnell die Gefahr eines so genannten Split Attention Effekts . Da wir nicht wollten, dass die Nutzer von den zusätzlichen Inhalten abgelenkt werden, haben wir sie in einem separaten Teil unter dem Video platziert und außerdem äußerst dezent eingesetzt. Das Video funktioniert auch ohne diese Zusatzelemente.

Zwar ist mit Flash diese Art der zeitgesteuerten Darstellung grundsätzlich auch möglich. Allerdings werden proprietäre Plugins benötigt. Anwendungen auf der Basis von HTML, CSS und Javascript lassen sich hingegen auf allen Endgeräten und Browsern darstellen.

So nutzt Arte Popcorn.js

So nutzt Arte Popcorn.js - http://bit.ly/g31SUq

Das Open-Source-Projekt Popcorn hat im November mit der Version 1.0 das Beta-Stadium verlassen – seither findet man im Netz zahlreiche interessante Projekte, die häufig experimetellen Charakter haben.
Ein sehenswertes Beispiel ist die Web-Doku One Millionth Tower. Popcorn selbst zeigt auf seiner Seite viele Beispiele. Hervorzuheben ist ein Experiment von Arte, die für die Web-Doku „Notre Poison Quotidien“ Popcorn dezent eingesetzt haben. Programmierer entwickeln auf der Basis von Popcorn.js und unterschiedlichen APIs immer neue Anwendungen. In diesem Beispiel etwa wird Video mit WebGL und Google Maps kombiniert.
Wie es nicht aussehen darf, zeigt eine völlig überladenee Popcorn-Demo der Version 0.1 (Mittlerweile wird die Google Translate und die Google News API nicht mehr unterstützt).

Wie man Popcorn.js auf deutlich höherem technischen Niveau journalistisch einsetzen kann, zeigt etwa die interaktive Radiosendung des Radiolab. Auch der Ansatz von Happyworm, ein Audio-Interview mit seinem Transkript zu verknüpfen, ist sehr spannend.

Die Idee, unterschiedliche Medienarten zeitgesteuert und interaktiv zu kombinieren, ist nicht neu. Mit der auf XML basierten Auszeichnungssprache SMIL können Text, Bild, Audio und Video über die von HTML bekannte Art und Weise, Medien darzustellen hinaus, parallel bzw. untereinander durch Events verknüpft im Browser dargestellt werden.
Allerdings ist SMIL nie in alle Browser implementiert worden. Zum Abspielen werden etwa eigene Player benötigt. Popcorn.js benötigt lediglich einen halbwegs aktuellen, HTML5-fähigen Browser.

Kritiker führen neben dem Split Attention Effekt auch an, dass Popcorn.js nur dafür missbraucht werden könnte, leichter kontextbasierte Werbung zu platzieren und (interaktive) Anzeigen nur an der dazu passenden Stellen im Video anzuzeigen, was Webseiten nur noch unruhiger werden lassen könnte. Außerdem sehen viele in dieser Art von Kontextanreicherung lediglich bessere Youtube-Annotations. Darüberhinaus ist Popcorn sehr rechenaufwendig und läuft nicht auf jedem Netbook flüssig.

Popcorn.js How-To

Für die Popcorn-Syntax werden lediglich Grundkenntnisse in Web-Skript- und Auszeichnungssprachen (Javascript, HTML, CSS) benötigt. Wohingegen bei größeren Projekten, oder wenn etwa eigene Erweiterungen über die Popcorn-API geschrieben werden müssen, Programmierer hinzugezogen werden sollten. Popcorn selbst stellt einige Tutorialvideos bereit. Eine weitere ausführliche Erklärung gibt es von Nettuts.
Im Folgenden werden die Grundzüge von Popcorn.js erläutert. Da ich selbst gelernter Journalist und kein Programmierer bin, bitte ich um Nachsicht bei der vielleicht teils unscharfen Verwendung von Informatik-Begriffen.

Beispiel: Popcorn Code

Videos können entweder direkt mit dem HTML5-Tag „video“ auf entsprechend codierte Dateien (Theora/OGG für Firefox, WebM für Chrome, MP4/H.264 für Safari) oder als Youtube- bzw. Vimeo-Link vorliegen und von Popcorn angesprochen werden.

Dass die Videos in allen Browsern dargestellt werden können, müssen sie, nachdem sie fertig geschnitten wurden, in die drei oben genannten Formate umgerechnet werden. Das funktioniert gut mit den freien Tools Miro Video Converter, FireOGG und MPEG Streamclip.

Das Grundgerüst bildet immer ein Popcorn-Objekt, das auf ein DOM-Element, das das entsprechende Video „enthält“, zugreift. Methoden an Instanzen dieses Objekts können dann darauf zugreifen und Befehle annehmen oder Werte ausgeben.
Popcorn bietet mehr als 20 vorgefertigte Plugins, mit denen die unterschiedlichsten Dinge mit dem Video gemacht werden können. Der Grundaufbau sieht dann in etwa so aus:

var videoName = Popcorn("#video");
videoName.footnote({
start: 2,
end: 6,
text: "Hallo",
target: "divElement" });

In dem Beispiel wird das Plugin „Footnote“ eingesetzt und macht nichts anderes, als dass der Text Hallo von Sekunde 2 bis Sekunde 6 des abgespielten Videos in dem Kasten „divElement“ angezeigt wird. Ein weiteres Beispiel ist die Integration von Google Maps:

var videoName = Popcorn("#video");
videoName.googlemap({
start: 10,
end: 35,
type: "satellite",
target: "divElement",
location: "Berlin",
zoom: 9  });

Das Plugin „Googlemap“ in diesem Beispiel zeigt von Sekunde 10 bis 35 eine Google Map zentriert auf Berlin in der Zoomstufe 9 und der Satellitenfoto-Ansicht in dem Kasten „divElement“ an.

Von diesen Plugins gibt es etwa zwei Dutzend. Sie übernehmen die Kommunikation mit Online-Tools wie Google Maps oder Soundcloud, indem sie über die Schnittstelle (API) Daten übergeben und wieder zurück bekommen.

Popcorn Maker

Popcorn Maker

Was einem nicht erspart bleibt, wenn man etwa Untertitel auf diese Weise hinzufügt, ist die mühevolle Kleinarbeit, jedes einzelne Element im Code einzutragen. Dagegen haben die Popcorn-Entwickler etwas übernommen und die Anwendungen Popcorn Maker veröffentlicht. Damit wird der Einsatz von Popcorn.js auch für diejenigen erleichtert, die überhaupt nichts mit Code zu tun haben wollen. Ähnlich wie bei Schnittprogrammen wird dort die Anordnung von Video, Text, Bilder, Googlemaps etc. über Ebenen in einer Timeline organisiert. Allerdings befindet sich der Popcorn Maker derzeit noch im Alpha-Stadium und stürzt häufig ab, bzw. unterstützt nicht alle Plugins.

Fazit: Spielerei oder ernstzunehmende Webvideo-Evolution: Fest steht, dass das „Entkoppeln“ von Videos im Web – weg von im Video unwiederbringbar „eingebrannten“ Elementen – spannende Möglichkeiten des Storytellings bietet – und das weit über dem sehr dezenten Einsatz in umserem Projekt. Techniken wie Popcorn.js oder WebGL stehen für Journalisten und/oder Filmemacher erst am Anfang. Und durch die ständigen Erweiterungen und Hacks könnten schnell weitere interessante Elemente für neue Darstellungsformen hinzukommen, die sowohl im schnellen Nachrichtenalltag als auch im Filmbereich sinnvoll eingesetzt werden können.

Ich freue mich über Kritik zu dem Multimedia-Experiment. Hier in den Kommentaren, per Mail, Twitter als Facebook-Kommentar oder Google-Plus-Post. Wir planen ein Update auf Basis von Nutzermeinungen.

Update 3. Januar 2012

Update 11. Mai 2012

  • Wir haben mit unserem Multimedia-Feature den 1. Platz in der Kategorie Internet beim Axel-Springer-Preis 2012 belegt. In der Jury saßen Rüdiger Dietz (Spiegel Online), Dirk von Gehlen (jetzt.de), Dr. Mercedes Bunz (The Guardian), Dr. Dr. Alexander Görlach (The European), Lars Abromeit (geo.de), Franziska Bluhm (Wirtschaftswoche Online), Rowan Barnett (Twitter) und Michael Hauri (2470 Media)

Weiterführende Links: